Namenlos1

aus Kölner Stadt-Anzeiger ­ Nr. 206 ­ Freitag, 5. September 2003, Seite 3

Der Mann mit den vielen Häuten

Der Kölner Schriftsteller und die Vorwürfe, inoffizieller Mitarbeiter der DDR gewesen zu sein

Hat Günter Wallraff für den DDR-Geheimdienst gearbeitet oder nicht? Die Stasi-Unterlagenbehörde geht davon aus, der Kölner Autor streitet ab.

VON MARIANNE QUOIRIN

Über einen Mangel an Feinden konnte der Enthüllungsjournalist nie klagen. Aber jedes Mal, wenn sie Günter Wallraff attackieren, ruft der Angriff auch sofort seine Freunde auf den Plan. An dem Mann, der das Leben in einer falschen Identität zu seinem Beruf machte, scheiden sich die Geister. Und wie immer, wenn es um Wallraff geht, droht sich der Vorgang ins Vexierbild zu verwandeln, in dem jeder nur sieht, was er auch sehen will: Für die einen bleibt Wallraff die Gallionsfigur der 68er Generation, der Aufklärer der Nation, für die anderen aber der Nestbeschmutzer der Republik - und wie in den Zeiten des Kalten Krieges üblich - ein willfähriges Werkzeug des Ostberliner Regimes.

Ein alter Verdacht

Im Jahr 1992 tauchte der Verdacht auf, Günter Wallraff sei Agent der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) des Ministerium für Staatssicherheit gewesen, dann der gleiche Vorwurf 1998 und schließlich Anfang vorigen Monats in einem Bericht der Welt". Am 11. August hieß es in einer Pressemitteilung der Bundesbeauftragten für die Unterlagen der DDR-Staatssicherheit noch: Zu Günter Wallraff nichts Neues". Und ausdrücklich enthielt die Meldung den Hinweis: Ohnehin ist davor zu warnen, aus einzelnen Karteikarten auf eine IM-Belastung zu schließen." Am Mittwochabend trat die Chefin der Behörde Marianne Birthler vor die Kameras und erklärte, aus den seit kurzem verfügbaren Rosenholz-Dateien hätten sich Hinweise auf eine aktive Tätigkeit Wallraffs als inoffizieller Mitarbeiter (IM) Wagner" für die Jahre von 1968 bis 1971 gefunden. Im Krisenfall sollten die dort verzeichneten IMs mobilisiert werden.

Als im April 1968 eine operativ günstige Situation vorhanden war, wurde W. direkt angesprochen und zu einer Zusammenarbeit mit dem Nachrichtendienst der DDR geworben", heißt es in einem neun Seiten umfassenden Report von 1976. Aber schon 1972 war Wagner" für die HVA nutzlos, wegen anarchistischer Denk- und Verhaltensweisen" wurde die Zusammenarbeit angeblich beendet: Berichte aus dem Operationsgebiet über Wagner deuteten an, dass er abzurutschen begann." 1973 wird er als völlig unzuverlässig, haltlos und vergesslich" charakterisiert.

Günter Wallraff will am Montag in Köln zu den absurden Vorwürfen" Stellung nehmen. Der Führungsoffizier hat zwar eine Akte geführt, aber nicht mich", sagte er gestern dem Kölner Stadt-Anzeiger" und verspricht Beweise zur Widerlegung der Anschuldigungen. Rückendeckung erhält Wallraff von seinem Verlag Kiepenheuer & Witsch: Verleger Helge Malchow, der bei der Pressekonferenz an Wallraffs Seite sitzen will: Wir stehen nach wie vor zu unserem Autor. Ich glaube ihm, dass er nicht bewusst und aktiv für die Staatssicherheit gearbeitet hat."

Die Vorstellung, dass Günter Wallraff für die DDR undercover im Operationsgebiet des Klassenfeindes Bayer Leverkusen ausspioniert, Informationen über Forschungsarbeiten westdeutscher Wissenschaftler und über Waffen-Entwicklungen geliefert haben soll, beflügelt zwangsläufig die Fantasie. Denn man kann sich den Anwalt der Aufklärung auch als Agenten unter Agenten vorstellen. Wallraff ist das Chamäleon unter den deutschen Autoren. Beim Versicherungskonzern Gerling verdingte er sich als Bote, bei Bild" in Hannover als Reporter. Als Wohnungsloser übernachtete er im Obdachlosenasyl, als Türke Ali wurde er berühmt. Sicher, ich war nicht wirklich ein Türke. Aber man muss sich verkleiden, um die Gesellschaft zu demaskieren, muss täuschen, sich verstellen, um die Wahrheit herauszufinden." So beschreibt Wallraff seine Verwandlung zum türkischen Arbeiter, um Ganz unten" zu landen. Das war 1985.

Ende der 60er Jahre hatte Günter Wallraff in Ost-Berlin über NS-Täter recherchiert, die in der Bundesrepublik von der Justiz nicht behelligt wurden. Die DDR öffnete Wallraff (wie vielen anderen) ihre Archive, und die Journalisten fanden dort, was sie suchten - manchmal noch ein bisschen mehr. Und sie konnten oder wollten nicht immer unterscheiden, was echt war oder gefälscht. Alle Quellen, ob klar oder trübe, sollten dazu dienen, Skandale in der Bundesrepublik zu provozieren. Die Abteilung X der HVA konzentrierte sich allein auf ein Ziel: Desinformation des Klassenfeindes. Mit Erfolg - vom Stimmenkauf im Bundestag bis zu den angeblichen Plänen für ein Konzentrationslager, die der frühere Bundespräsident Heinrich Lübke gezeichnet hatte. Günter Wallraff, der sich im Westen von einem System von Spitzeln und geheimen Verschwörern umgeben wähnte - hat er etwa naiv seinen DDR-Kontakten alles abgenommen? Diesen Schatten wird Wallraff nicht los.

Das Stasi-Dokument erklärt nun Günter Wallraff zu einem Partner in diesem Geschäft, denn er soll sich nicht nur in den DDR-Archiven für Enthüllungen aus der NS-Vergangenheit von Bundesbürgern bedient haben. Auch für Horrorgeschichten über angebliche B-Waffenforschung in der Bundesrepublik einspannen haben lassen. Oder er soll Schulungsmaterial von einer Offizierschule an die DDR geliefert haben. Wallraff sagt, dass dies Material nicht von ihm stamme. Vielleicht habe ein ehrgeiziger Stasi-Offizier nur übertrieben - der eigenen Karriere willen.

Wie ein Geheimdienstler

Die ersten Informationen über den angeblichen IM Wallraff waren auf dunklen Wegen an die Öffentlichkeit gelangt, die Stasi-Unterlagenbehörde hat sich deshalb entschuldigen müssen. Denn das Dossier zeigte damals nur, was man bei der Staatssicherheit von dem ehrgeizigen Journalisten halten wollte. Das mag der Grund sein, dass Marianne Birthler diesmal so lange mit ihren Erkenntnissen gewartet hat. Nicht einmal alle Fakten, geschweige denn die Wahrheit lässt sich aus den wenigen Stasi-Dokumenten zu Wallraff herauslesen: Der Fall ist zu kompliziert, das Material zu dürftig.

Günter Wallraff hat sich für seine Rollenspiele nie verkleidet, sondern schlüpfte immer in eine fremde Haut. Er arbeitete wie ein Geheimdienstler, denn er beherrschte wie kein anderer die Technik des Täuschens und Tarnens. Vielleicht auch bei den Stasi-Offizieren, die ihn geführt haben wollen. Vielleicht war er aber nur Agent in eigener Sache.