Namenlos1

KOMMENTAR

Aktenstudium ohne Brille

Von Stephan Hebel

Geben wir es gleich zu: Helmut Kohl hat Recht. Nicht mit der verbissenen Gegenwehr gegen die Veröffentlichung von Stasi-Akten, in denen er vorkommt. Dieser Widerstand hält nur den - bisher unbegründeten - Verdacht am Leben, es könnte in den Papieren etwas über seine Rolle in der CDU-Spendenaffäre stehen, das der Altkanzler nicht öffentlich verhandelt sehen will. Aber nicht nur deshalb ist es erfreulich, dass die Berliner Verwaltungsrichter am Mittwoch gegen Kohl entschieden haben. Vor allem haben sie, leider noch nicht letztinstanzlich, der historischen Aufarbeitung des Stasi-Wesens einen Dienst erwiesen, die hinter einem missverstandenen Persönlichkeitsschutz ins Abseits zu geraten drohte. Dass der Altkanzler Betroffener des Stasi-Unwesens war und nicht Täter, ist unumstritten, und manches sollte deshalb geschwärzt werden. Aber den Deckel vollständig draufzuhalten, spräche jedem Anspruch nach historischer Aufklärung Hohn.

Recht aber hat Kohl gerade da, wo er sich für die Nutzung des Geheimdienst-Materials zur Aufarbeitung des Vergangenen einsetzt. Es müsse deutlich gesagt werden, sagte er, wer was gemacht hat" - auch im Westen. Auch wenn es manch einem zum Hals heraushängt, zum Beispiel Innenminister Otto Schily und sogar dem ehemaligen Stasi-Aufklärer Joachim Gauck: Die Rosenholz"-Dateien, in denen sich die Stasi-Version ihrer West-Arbeit findet, müssen genauso genutzt werden wie das Material über kollaborierende DDR-Bürger. Bis hin zum Check von Parlamentariern, Regierenden und Beamten.

Das gebietet nicht nur die Fairness gegenüber den Ostdeutschen, deren Benachteiligungs-Gefühle man nicht auch noch mit einem Schlussstrich (West) bedienen sollte. Es darf vor allem keine Möglichkeit ausgelassen werden, deutsch-deutsche Geschichte von beiden Seiten her zu beleuchten. Dass Schily & Co. jetzt dieselben Argumente benutzen (zu aufwendig", nicht unter Generalverdacht stellen"), mit denen sich früher manch ein Ex-SEDler wehrte, macht die Sache nicht besser.

Folgen wir also dieses Mal Helmut Kohl. Stellen wir uns vor, das Rosenholz-Material würde für die Überprüfung von Staatsdienern und die historische Forschung genutzt. Was wäre die Folge? Zum einen wohl die Entfernung einiger Beamter aus dem Dienst (mehr eher nicht, denn strafrechtlich sind die Spionage-Vorwürfe verjährt). Zum anderen, und wichtiger: Es würden Puzzle-Teile zum Vorschein kommen, aus denen sich das Bild der Bundesrepublik vervollständigen ließe.

Der erste Fall ist ja bereits da: die Affäre Wallraff". Dass die Debatte darüber auf teils kläglichem Niveau stattfindet, spricht nicht dagegen, sie zu führen. Jene Leitartikler, die schon immer wussten, dass die Nach-68er allesamt nichts anderes waren als ideologiebedingt blind für die SED-Diktatur, sind kein Maßstab. Zu umnachtet sind sie selbst durch ihr simples Weltbild, in dem sich vergangene Kämpfe spiegeln. Es wäre vielmehr zu hoffen, dass der (selbst-)kritische Blick auf die Zeit der Block-Konfrontation umso freier würde, je mehr Material - auch aus den Stasi-Akten - zur Verfügung stünde.

Kritischer Blick, das hieße zum Ersten: Was Mielkes Schlapphüte aufschrieben, ist nicht gleichzusetzen mit der Wahrheit. Ob Wallraff wusste, mit wem er sprach, oder ob er nur" abgeschöpft wurde, ist bis heute nicht zu entscheiden. Vielleicht noch wichtiger aber ist die Frage, was einen wie ihn dazu trieb, die DDR zumindest teilweise als Verbündete im westdeutschen Polit-Kampf zu nutzen. Sie ist mit dem erhobenen Zeigefinger der Schon-immer-Rechthaber nicht befriedigend zu beantworten. Es darf daran erinnert werden, dass ein Franz Josef Strauß damals seine Gegner als Ratten und Schmeißfliegen" beschimpfte - wer sich da vor allem verpflichtet sah, im eigenen Land den Anfängen zu wehren, lag keineswegs so weit daneben, wie jetzt in Verharmlosung der bundesdeutschen Rechtstendenzen behauptet wird. Die Chance, die alte Bundesrepublik unangemessen zu verklären, sollte man den damaligen Verfechtern des Status quo nicht lassen. Und den gesettleten Ex-68ern, die ihr aktuelles Bedürfnis nach Anpassung durch Verunglimpfung der eigenen Vergangenheit zu legitimieren versuchen, auch nicht.

Richtig bleibt aber auch: Gerade wer den Anspruch hatte, für die Selbstbestimmung der Menschen zu kämpfen, hätte den Blick für die grausame Normiertheit und den autoritären Charakter des SED-Regimes nicht verlieren dürfen. Viele haben ihn verloren, weil ihr Horizont auf die Konfrontation mit den Mängeln der eigenen Gesellschaft verengt war und weil sie in dieser Verstrickung nach dem gefährlichen Motto Der Feind meines Feindes ist mein Freund" agierten. Andere aber wussten sehr wohl, dass die Alternative zum reformbedürftigen Kapitalismus hinter dem eisernen Vorhang ganz sicher nicht lag.

Schön wär's, wenn eines Tages die Geschichte anders betrachtet würde als durch die Brille vergangener Konfrontationen. Wenn alles verfügbare Material, auch das der Stasi, genutzt würde, um die Rolle eines Günter Wallraff ebenso entspannt zu begutachten wie die von Helmut Kohl.

Copyright © Frankfurter Rundschau online 2003

Erscheinungsdatum 18.09.2003