Psychiatrie-Kongress

Hirnbilder für die Klinik

30.11.2011 2011-11-30T16:06:00+0100 ·  Die deutschen Psychiater diskutierten in Berlin zukunftsweisende Forschungsarbeiten. Günter Wallraff als Gast blickte auf die Vergangenheit des Fachgebiets.

Von Christina Hucklenbroich

 

Günter Wallraff

 

Sind es zwei Welten, die aufeinanderprallen, als Günter Wallraff am Freitagnachmittag in Berlin ans Mikrofon tritt? Der Enthüllungsschriftsteller, Psychiatriekritiker seit langem, wird in seinem Vortrag erzählen, er sammle Malerei von psychisch kranken Menschen. Die würden immer weniger, wird er hinzufügen: "Weil man sie so mit Psychopharmaka zuknallt, dass sie diese Impulse nicht mehr haben." Auf der anderen Seite sitzen mehrere hundert Ärzte und Wissenschaftler, die Teilnehmer des diesjährigen Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie. Selbst die Stufen neben den Sitzreihen im Saal des Kongresszentrums sind belegt, so viele Tagungsgäste wollen Wallraffs Vortrag verfolgen. Und das, was sie hören, hat wenig zu tun mit den bisherigen Vorträgen und Symposien des mehrtägigen Kongresses. Denn da ging es um die großen Trendthemen des Faches: Medikamentöse Therapiestrategien, die mittels Erkennung von Genotypen personalisiert werden können. Die Früherkennung psychiatrischer Störungsbilder, für die man auch auf neue Bluttests und die Hirnbildgebung hofft. Vielfach standen translationale Ansätze im Mittelpunkt, also die Möglichkeit, Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung und aus klinischen Studien in die Klinik zu übertragen.

Er führte Tagebuch bei der Bundeswehr

Der Schriftsteller Günter Wallraff nun stellt etwas anderes in den Vordergrund: "Bei mir", sagt er gleich zu Anfang ins Auditorium, "haben Sie es mit einem Psychiatrieerfahrenen zu tun." Wallraff, Jahrgang 1942, wurde trotz seiner Kriegsdienstverweigerung Anfang der sechziger Jahre zur Bundeswehr eingezogen. Dort führte er Tagebuch. Als bekannt wurde, dass er seine Aufzeichnungen veröffentlichen wollte, schlug man ihm einen Handel vor: Er würde sofort entlassen werden, wenn er auf die Publikation verzichtete. Wallraff lehnte ab und kam in die geschlossene Psychiatrie. In Berlin liest er aus seiner Klinikakte vor, die er später hat einsehen können. Der behandelnde Psychiater hatte geschrieben: "Ich fand keine Anhaltspunkte für eine Psychose, vor allem keine Symptome ersten Ranges, etwa Halluzinationen." Deshalb wolle er eher an eine "Psychopathie" glauben, heißt es dann und weiter: "Es könnte sein, dass er sich anders entwickelt hätte, wenn er einen Vater gehabt hätte, der ihn erzogen hätte." Der Arzt empfahl, dass die Bundeswehr stattdessen einen Beitrag zur Erziehung leisten sollte.

Wallraff schildert die autoritär geprägte Psychiatrie der unmittelbaren Nachkriegszeit - ohne Bitterkeit, aber auch ohne Verzeihen. In seiner Akte heißt es weiter: "Er hätte auch im Verteidigungsfall nur als Versager auftreten können." Heute sei das ein "großer Orden", sagt Wallraff. Aber damals habe er an sich gezweifelt, die Diagnose habe ihn so sehr irritiert, dass er nach seiner Entlassung nicht in seinem Beruf als Buchhändler arbeitete, sondern durch Europa trampte und in Obdachlosenasylen übernachtete. "Ohne die damalige totale Infragestellung wäre ich ein anderer geworden", sagt er. "Danach habe ich mich auch für andere Machtlose in der Gesellschaft eingesetzt." Wallraff erhält in Berlin rauschenden Beifall. Vielleicht ist es der Applaus eines Fachgebiets, das selbst noch seinen Platz sucht innerhalb der Medizin. Die Psychiatrie empfinde sich im Vergleich mit den anderen medizinischen Disziplinen oftmals als stigmatisiert, sagte Kongresspräsident Peter Falkai in Berlin: "Man versteht die Arbeit des Psychiaters nicht richtig."

Zumindest für das, was die Forschung des Fachgebietes heute ausmacht, wurden in Berlin eindrucksvolle Beispiele präsentiert...

Was wird in einem halben Jahrhundert sein?

Günter Wallraff fragte in seiner Rede, ob man in einem halben Jahrhundert die heutige Psychiatrie wohl mit demselben Befremden betrachten werde wie man heute auf die frühen sechziger Jahre blickt, auf jene Zeit, als er selbst wider Willen psychiatrisiert wurde. Egal, wo die Psychiatrie dann innerhalb der Medizin steht: In jedem Fall werden die Historiker wohl nicht umhin können, auf die Forschungtrends zu verweisen, auf denen große Hoffnungen lagen. Welche das sind, hat das Berliner Kongressprogramm in diesem Jahr dicht gedrängt gezeigt.