14.09.2003

"Warum habe ich das nicht an mich rangelassen?"

Er ist ein Linker und galt als moralische Instanz. Und jetzt? Über die DDR sagt Günter Wallraff heute: "Die haben mich geachtet."

Der Journalist Günter Wallraff, 60, wurde durch seine Enthüllungen bekannt. Verkleidet als Gastarbeiter Ali recherchierte er, wie Ausländer in deutschen Betrieben behandelt wurden – 1985 erschien sein Buch "Ganz unten", das sich zwei Millionen Mal verkaufte. 1977 schrieb er "Der Aufmacher", ein Bestseller über die "Bild"-Zeitung. Nun wird er verdächtigt, Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi gewesen zu sein. Die Birthler-Behörde sieht dies als erwiesen an, Wallraff bestreitet den Vorwurf.

Interview: Kerstin Kohlenberg und Lorenz Maroldt; Foto: Kai-Uwe Heinrich

Spätabends kurz hinter Cottbus. Es regnet in Strömen, der Weg zum Gut Geisendorf führt einsam durch den Wald. Am Eingang hängt ein Plakat: Günter Wallraff liest. Mit Filzstift hat jemand darunter geschrieben: Ausverkauft. Die Lesung ist gerade zu Ende, lauter Applaus, Schulterklopfen. Ein Held sei Wallraff, sagt einer, und das mit der Stasi, also nee, das glaube er nicht. Wallraff signiert, telefoniert, isst eine Suppe, trinkt ein paar Gläser Sekt. Dann fahren wir gemeinsam in sein Hotel. Es ist mittlerweile nach 23 Uhr. An der Bar stehen ein paar Leute und trinken. Wallraff bestellt einen Gin Tonic. Zum Wachwerden.

Herr Wallraff, Sie haben mal gesagt: "Der Unterschied zwischen mir und dem bundesdeutschen Durchschnitt ist, dass ich noch nie eine Krawatte besessen habe. Das Anlegen derselben ist wie eine Strangulation. Ein Zeichen der Unfreiheit." 1967 sind Sie auf einem Bild im Rostocker Theater zu sehen. Da tragen Sie einen Schlips.

Das war eine frühe Zeit, in der es schon mal Ausnahmen gab. Es gibt zwei Fotos von mir mit Schlips. Das andere war die Verleihung eines Literatur-Preises, da habe ich auch so ein Strangulationsding an. Es war keine Verstellung, nur falsche Höflichkeit. Als ich es jetzt in der Zeitung sah, ist mir das auch unangenehm aufgestoßen. Ich hatte das vergessen.

Wir wollen mit Ihnen über das Erinnern sprechen. 1967 waren Sie 25 Jahre alt. Wie kamen Ihnen die Menschen in der DDR damals vor?

Es war ein anderer Volksstamm. Ich sage das jetzt gar nicht abwertend. Es war eine andere Welt. Einerseits befremdlich und dennoch – nun ja, die haben mich geachtet. In den seriösen Blättern im Westen war ich einer, der nicht ernst zu nehmen war. Das war ja noch vor 68. Und im Osten wurde meine Arbeit plötzlich als Arbeiterliteratur gewürdigt. Die Frau vom Gundlach…

… Heinz Gundlach, der als IM Friedhelm über Sie berichtet hat und den Sie laut Stasi-Eintrag mit Informationen versorgt haben…

… hatte eine wissenschaftliche Arbeit über mich veröffentlicht. Es gab Vergleiche mit Kisch, ich war plötzlich jemand.

Wie kam der Kontakt mit Gundlach zustande?

Ich war in Hamburg beim "Abendecho" Kulturredakteur und bin mit einer Theatergruppe nach Rostock gereist. Und dort war Gundlach auch. Er war dann sehr an meinen Industriereportagen interessiert, und hat sich dafür eingesetzt, dass sie in der "Ostseezeitung" abgedruckt wurde. Er hat deshalb große Schwierigkeiten gehabt, denn die Funktionäre hatten Angst, dass die Kumpels Rückschlüsse auf die eigenen Situation ziehen. Im Osten wären die Zustände zum Teil ähnlich.

Haben Sie Honorar bekommen?

Ja, Ostmark, und wir haben Schallplatten, Bücher und Babysachen für die Kinder davon gekauft.

Haben Sie sich im Osten als Verbündeter oder Geistesverwandter gefühlt?

Dazu war es mir zu fremd. Es hat mich interessiert, vielleicht auch gebauchpinselt. Aber sonst… Ich weiß noch, als ich mit Birgit, meiner damaligen Frau, da war. Wir waren in ein teures Hotel eingeladen. Übrigens: In der Nachbarschaft, im Gästehaus der Regierung, war Baron von Thyssen mit Nadja Tiller untergebracht. Das galt als geheim. Damals ging es um riesige Werftaufträge. Oh! IM-Akte nachgucken! (Wallraff lacht). Also, die Birgit trug eine Strickjacke, so eine Mischung aus Mantel und Jacke. Wir kamen ins Restaurant, und der Kellner sagt, legen Sie ihren Mantel bitte an der Garderobe ab. Birgit sagt, wieso Mantel, das ist meine Jacke. Der Kellner: Nein, das ist ein Mantel. Birgit: Nein, Jacke! Der bestand aber darauf und kam mit einer Anweisung, dass die Jacke zehn Zentimeter zu lang war, um als Jacke durchzugehen. Darüber haben wir uns natürlich sehr lustig gemacht. Anderseits waren die Menschen, mit denen wir zu tun hatten, sehr anständig. Das war eine Form von Menschlichkeit, die war nicht gespielt.

Ist das mit Bewunderung nicht meistens so, dass man sie für anständig hält?

Die Gefahr besteht. Wir hatten aber eine echte Freundschaft mit den Gundlachs, da war nix Falsches dran. Die hatten ein gleichaltriges Kind, ich mochte auch seine Frau sehr gerne. Wir haben uns offen unterhalten, auch über die Schwachstellen ihres Systems. Sie glaubten, dass sich die DDR langfristig zu einem besseren Sozialismus entwickelte. Ich war skeptisch.

Was hat Sie skeptisch gemacht?

Die Reglementierung. Wir kamen aus eher antiautoritären Gefilden. Mich hat die Spaß-Guerilla im Westen eher angemacht, der Kommune-Gedanke, ein bisschen Experimente auch in sexueller Hinsicht. Und später die Kinderladenbewegung. Das war in der DDR alles sehr konservativ.

Die Stasi hat über Sie geschrieben, Sie seien unzuverlässig, spielsüchtig und drogenabhängig.

Eine Erfindung. Ich habe 1963 mal einen Selbstversuch mit Meskalin gemacht, das war alles. Viel später hatte ich einen Freund, der kiffte viel. Wenn der zu Besuch war, habe ich schon mal gezogen. Er hatte übrigens einen schönen Tod: Er raucht mit einem Freund gerade seinen dritten Joint und sagt plötzlich, "Isch glaub’ ich han nen Fläsch", bricht zusammen und ist tot.

Welche Rolle haben Frauen in Ihrem Leben gespielt?

Oh, sehr wichtig. Aber im Gegensatz zu den Jägern und Sammlern ist das bei mir übersichtlich geblieben. Ich erinnere mich noch an jede Einzelne. Anders als ein Freund von mir, der durch die Zeitung guckt: Todesanzeigen, keiner, den er kennt, Verlobungs-, Hochzeitsanzeigen, keine seiner Verflossenen. Bei den Geburtsanzeigen kriegt er einen Schock: "Die kleine Soja freut sich, das Licht der Welt erblickt zu haben, und grüßt ihren Papi M.L." Den Namen behalte ich lieber für mich.

Kannten Sie Ulrike Meinhof?

Ich habe in einer Nacht, kurz bevor sie abgetaucht ist, noch mit ihr telefoniert. Ich habe die Ulrike sehr geschätzt als sie sich sozial engagiert hat und "Bambule" gemacht hat, den Film über die Jugendheime.

Wie wichtig war Ihnen Stil?

Ich bin Luxus im Kleinen durchaus aufgeschlossen.

Sie tragen heute ein Tommy-Hilfiger-Hemd.

Ja, zum Beispiel. Da gefällt mir das Design. Es kann auch vorkommen, dass ich mir einen Füller kaufe, der schweineteuer ist.

Wussten Sie, dass die DDR, so wie Sie sie damals kennen lernten, auch eine Luxusausführung war?

Es war mir klar, dass das nicht das Leben der normalen Menschen ist. Darum habe ich auch später ein paar Anläufe unternommen, mal in den grauen Alltag der Arbeiter einzutauchen.

Aber Sie haben es nie getan. Warum nicht?

Landolf Scherzer, mein Schriftstellerfreund, hat mir erklärt, dass jedem DDR-Arbeiter seine Kaderakte vorauseile, und ein Rollentausch unmöglich sei.

Wolf Biermann hat 1976 in Köln bei seinem letzten Konzert vor der Ausbürgerung gesagt, dass er die DDR für das bessere Deutschland hält. Wie war Ihre Position?

So nicht. Für mich war die DDR im Alltag etwas fast Abstoßendes. Ich war aber kein Theoretiker. Ich habe nicht studiert und hatte Defizite im marxistischen Vokabular. Da kannte sich der Wolf viel besser aus.

Ein Mann kommt vom Tresen herübergewankt.

Tschuldigung, darf ich mich mal dazu setzen?

Das ist jetzt blöd. Wir müssen noch arbeiten. Ich komme gleich zu Ihnen.

Sie haben Marx nicht auswendig gelernt. Gab es von Seiten der Studentenbewegung Vorbehalte gegen Sie?

Von den Ultraorthodoxen schon, aber insgesamt genoss ich da ein hohes Ansehen, weil ich in den Betrieben arbeitete. Meine Industriereportagen waren völlig unideologisch. Es gab Kritiker, die sagten, jemand, der den Mond als erstes betritt, hat mehr Kenntnis über den Mond, als ich über die Arbeiterklasse. Und das würde auch die Stärke ausmachen. Der naive Blick, das sich über Zustände aufregen können, die für andere längst selbstverständlich sind.

Sie haben 1974 als Angeklagter vor dem Militärtribunal in Griechenland gesagt, dass keine Ideologie Menschenrechtsverletzungen rechtfertigt, auch nicht in der Sowjetunion. Wann haben Sie Menschenrechtsverletzungen in der DDR zum ersten Mal bewusst wahrgenommen?

Ja, gute Frage.

Wallraff lehnt sich zurück und verschränkt die Arme.

Ja, warum wusste ich das nicht? Das sehe ich als ein Riesenmanko an, in den frühen Jahren. Warum habe ich das nicht an mich rangelassen? Ich wusste das doch. Das ist jetzt ein Widerspruch. Da stimmt was nicht. Auf jeden Fall hätte man es wissen müssen. Sendete der Löwenthal damals schon?

Gerhard Löwenthal, der Antikommunist, das Feindbild der Linken, berichtete von 1969 bis 1987 im ZDF über Menschenrechtsverletzungen im Ostblock.

Das war das Problem. Man hat die Sendung des Gegners nicht gesehen. Und wenn ich sie mal sah, habe ich gesagt, er hat ja Recht. Nicht wenn er Propaganda machte, aber wenn er einzelne Schicksale beschrieb. Man konnte ihn nicht ausstehen, weil er zu einem Lager gehörte, das den Putsch in Chile und das Rassistenregime in Südafrika rechtfertigte. Darum hat man das Unrecht, das er aufzeigte, nicht thematisiert. Das war der Fehler. Ich glaubte, dass in der DDR der Faschismus bewältigt sei. Bei uns ließ Franz Josef Strauß dagegen bei seinen Freundschaftsbesuchen keine Diktatur aus. Später wurde mir dann von Jürgen Fuchs berichtet...

...dem ausgebürgerten Schriftsteller und ehemaligen Häftling der DDR, der 1999 an den Folgen einer radioaktiven Verseuchung während seiner Haftzeit starb...

...dass da auch in der DDR in einzelnen Positionen noch Nazis saßen. Aber nicht so flächendeckend!

Hatten Sie Verständnis für den Mauerbau?

Nein. Absolut nicht.

Die Mauer war ja eine offensichtliche Menschenrechtsverletzung. Haben Sie darüber im Osten gesprochen?

Pfff... – Gute Frage. – Ich befürchte, ich habe es ausgeklammert. Und nur den Schießbefehl verurteilt.

Mit wem haben Sie darüber gesprochen?

Leider mit zu wenigen.

Mit Gundlach?

Auf jeden Fall.

Können Sie sich das aus heutiger Sicht erklären?

Ich wusste, dass im Kalten Krieg versucht wurde, die DDR in die Knie zu zwingen und sie wirtschaftlich auszubluten. Da gab es zum Beispiel die Waren Sie eigentlich jemals selbst in den Ost-Archiven?

Nein. Ich habe Namen von NS-Verbrechern genannt, und dann wurde mir das aus dem Archiv rausgeholt.

Hatten Sie keine Angst, dass Ihnen gefälschte Materialien untergejubelt werden?

Das habe ich überprüft. Einmal bekam ich zwei Dossiers, ich weiß wirklich nicht mehr worüber, es war so durchsichtig, so läppisch, propagandistisch, dass ich es in den Papierkorb geschmissen habe.

Und Sie erinnern sich nicht mehr, worum es da ging?

Nee. Beim besten Willen nicht. Das war Müll.

Ein anderer Thekenmensch schwankt heran.

Schönen guten Abend. Herr Wallraff, herzlich willkommen. Ich wollte es ja gar nicht glauben, dass Sie es sind. Also ich will Ihnen mal sagen, weiter so!

Danke schön.

Der Thekenmensch tritt wieder ab.

Wussten Sie damals, dass es die Stasi gibt?

Und ob. Ich bin ja nicht blöd. Aber die, mit denen ich zu tun hatte, hatten so gar kein Agentenimage.

Sie waren naiv.

Ich war immer sehr naiv. Da bestehe ich auch drauf.

Um Ihrem eigenen Anspruch gerecht zu werden, müssten Sie aber ein kritischer Mensch sein.

Nicht dem einzelnen Menschen gegenüber, sondern Institutionen. Sonst wäre ich schon längst Paranoiker.

Wäre es Ende der 60er Jahre in Ihren Kreisen ehrenrührig gewesen, mit der Stasi zusammenzuarbeiten? Oder hätte man das mit einer gewissen Achtung betrachtet?

In meinen Kreisen wäre das ehrenrührig gewesen.