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wallraff unter verdacht
Auf dem Feld der Wahrscheinlichkeit
Auch nach den neuesten Verlautbarungen der Birthler-Behörde zum "Fall Wallraff" bewegen
wir uns auf dem Feld der Wahrscheinlichkeit, wo Indizien gewertet, Rückschlüsse gezogen,
Behauptung und Gegenbehauptung abgewogen werden. Die Stasi-Unterlagen belegen nach
Auskunft Marianne Birthlers, dass "nach unserem jetzigen Erkenntnisstand Günther Wallraff in der
Rosenholz-Kartei erfasst ist". Ein Auskunftsbericht der Stasi spricht von seiner Anwerbung. Aber
sagen solche Unterlagen immer die Wahrheit? Wie kommt es, dass Wallraff zwölf Jahre nach
seiner Parteinahme für Wolf Biermann in einem Statistikbogen noch als zuverlässig eingestuft wird?
Fazit: Wir sollten uns mit einem Urteil - noch - zurückzuhalten.
Gesetzt den Fall, eine Tätigkeit Wallraffs als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) würde über jeden
vernünftigen Zweifel als erwiesen gelten, welche Reaktion wäre dann angemessen?
Eine Bagatellisierung etwa nach dem Muster: Viele Linke zu Ende der 60er-Jahre hätten zwar die
DDR als bürokratisch degeneriert abgelehnt, in ihr aber dennoch - etwa im Kampf gegen alte wie
neue Nazis - einen Bündnispartner gesehen? Ausgeschlossen. Zu viele linke Journalisten und
Wissenschaftler, die sich belastenden Materials über Nazi-Größen aus der MfS-Kiste bedienten,
haben jedes kritische Unterscheidungsvermögen eingebüßt, sind einfach manipuliert worden.
Hier gilt schon immer: Wer mit dem Teufel isst, muss einen langen Löffel haben. Wallraff
insbesondere bezog seine politische wie moralische Autorität aus einer unabhängigen, gegenüber der
BRD wie der DDR kritischen linken Position. Sie wäre durch eine Tätigkeit fürs MfS, aus welchen
"antifaschistischen" Motiven auch immer, diskreditiert.
In keinem Fall aber müssten wir uns die Haltung des Springer Verlags zu Eigen machen,
der Wallraffs gesamte journalistische und politische Arbeit unter das Verdikt "IM" stellt und ihn
dadurch als öffentliche Person vernichten will. Wallraffs journalistische Großtaten wie
sein Gastarbeiterreport oder der Bericht über seine Tätigkeit als Bild-Redakteur, sind nach seiner
Stellungnahme für die demokratische Opposition in der DDR entstanden. Für ihn gilt wie für jeden,
der für das MfS gearbeitet hat, dass bei einem Urteil die ganze öffentliche Biografie in Rechnung
zu stellen ist.
All das muss man ins Konditional setzen, von dem zu hoffen ist, dass es nicht zur
Wirklichkeitsform werde. Dafür zu sorgen, ist jetzt Wallraffs Aufgabe.
Kommentar
von CHRISTIAN SEMLER
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