„Ich provoziere Gegenzüge“

„Ich provoziere Gegenzüge“

 

Interview mit Günter Wallraff:

Der Botschafter der Schach-Olympiade zieht viele Parallelen zu seiner Enthüllungsarbeit

 

Die Schach-Olympiade in Dresden geht er ganz untypisch an: ohne Deckmantel. Günter Wallraff ist neben den Fußballern Felix Magath, Marco Bode, Wladimir und Witali Klitschko oder Mike Krüger und „Prinzen“-Sänger Sebastian Krumbiegel offizieller Botschafter für die Großveranstaltung mit 257 Frauen- und Männer-Nationalmannschaften aus aller Welt. Der 66-jährige Schriftsteller gilt als Vater des investigativen Journalismus in Deutschland. Unter anderem deckte er als Hans Esser die Arbeit in der Redaktion der „Bild“ auf oder zeigte unmenschliche Arbeitsbedingungen unter Tage auf. In Schweden und Norwegen gibt es für seinen Recherchestil sogar eigene Verben mit  „wallraffa“ beziehungsweise „wallraffe“. Im Interview mit Hartmut Metz zieht Günter Wallraff zahlreiche Parallelen zu seiner Arbeit und seinem Hobby Schach, das ihn besonders schulte.

 

Frage: Herr Wallraff, was verbindet einen Enthüllungsjournalisten wie Sie einer sind und Schachspieler?

Wallraff: Bei meiner Arbeit bin ich ständig in Abwehrsituationen. Ich provoziere mit meinen Aktionen Gegenzüge, die ich bereits im Vorhinein erkennen und berücksichtigen muss – genau wie bei einer Schachpartie. Das ist aber nur bei meiner Arbeit so, im Privaten bin ich ganz offen und unverstellt. Gegen meine übermächtigen Gegner muss ich jedoch Langzeitfolgen berücksichtigen, vor allem wenn ich mit Prozessen überzogen werde.

Frage: Nennen Sie bitte ein Beispiel.

Wallraff: In der Callcenter-Szene, in der ich recherchierte und der ich kräftig zusetzte, hoffte ich auf einen Prozess. Ich will nicht sagen, ich war auf einen Prozess versessen – ich hätte ihn aber gewonnen, denn ich besaß mehr Zeugen und mehr Unterlagen. Aber so ein Prozess verschlingt auch immer Zeit, Energie und Geld – mit dem Weitblick des Schachspielers wünschte ich mir jedoch das Duell. Sie verhielten sich auch wie erwartet. In ihrer Fachzeitschrift reagierten sie wie trotzige Kinder: „Den Gefallen zu prozessieren, tun wir ihm nicht.“ Meinen vergifteten Bauern, wie es im Schach heißt, schluckten sie nicht.

Frage: Wie weit müssen Sie vorausrechnen? Schachspieler können komplizierte Positionen zehn, zwölf Züge vorher abschätzen. Gilt bei Ihren Recherchen auch: Je weiter, desto besser – und ein Fehler kann alles ruinieren?

Wallraff: Es kann ins Auge gehen oder eine Arbeit anfechtbar machen. Das auf jeden Fall. Sie müssen sehr viel berücksichtigen, vor allem das, was im Moment noch gar nicht als Gefahr zu erkennen ist. Ich glaube, bisher Prozesse und Kampagnen unbeschadet überstanden zu haben. Das hängt sicher auch mit der Konzentration und der Kombinationsgabe zusammen, die mich das Schach lehrte. Mir hilft Schach, konzen­triert bei der Sache zu bleiben. Ich bin außerhalb meiner eigentlichen Arbeit ein zu unruhiger Mensch. Dagegen halte ich einerseits mit Ausdauersport wie Laufen, andererseits mit konzentriertem Schachspielen.

Frage: Ist der Unterschied zu Ihrer Arbeit: Schach beschert Ihnen Entspannung?

Wallraff: Ich war während der vergangenen Jahrzehnte ständig gefordert und gehetzt, in Kampagnen verwickelt und gleichzeitig auf der Anklagebank. Schach hat mir all die Jahre Ruhe und Ausdauer gegeben. Bei einer Partie lasse ich alles andere hinter mir und bin in einer anderen Welt. Mit dem Schach habe ich mir einen Ruhepol in meinem Leben geschaffen, ja geradezu eine Lebenshilfe. Da erlebe ich wahre Glücksmomente. Ich vergesse alles andere um mich herum wie auch beim Laufen, während Wüstenwanderungen oder langen Kajakfahrten. Ich sehe das als Ersatz für Meditation, für die ich zu unruhig bin.

Frage: Glücksmomente? Unterscheiden sich die im Schach von denen nach einer erfolgreichen Enthüllung?

Wallraff: Ich möchte das eigentlich nicht – aber wenn ich ehrlich bin: Nach Siegen im Schach fühle ich mich besser (lacht). Das fällt mir jetzt erst auf, nachdem Sie es ansprechen: Niederlagen gegen viel stärkere Spieler machen mir nichts aus. Manchmal bin ich aber auch mit einem Remis zufrieden. Wenn einen die Ungewissheit plagt, ist einem so ein Friedensschluss durchaus angenehm.

Frage: Haben Sie einen Hang zum Spielen?

Wallraff: Ich spiele für mein Leben gerne. In Ausnahmefällen auch um mein Leben, wenn es unbedingt sein muss. Es hängt immer mit Spiel zusammen – wäre das Spiel nicht, wäre ich vielleicht heute ein verhärmter, leicht paranoider Mensch. So ist das Gegenteil der Fall. Was mir auch gut gelingt, ist, sich in andere hineinzuversetzen. Die Empathie wird häufig nur Frauen zugesprochen, aber ich bin bereit, andere Gedankengänge eines Gegners zu verstehen und auch von ihm zu lernen. Man kann von jedem etwas lernen! Das zeigt sich genauso im Schach – nur die reine Aggression liegt mir dabei nicht. Ein Freund, ein evangelischer Pfarrer, versucht das bei mir, indem er während der Partien menschliche Schwächen verbalisiert. Er versucht Psycho-Aggressionspotenzial hineinzutragen.

Frage: Nicht sehr christlich von einem Priester.

Wallraff (lacht schallend): Stimmt, er muss sich vermutlich abreagieren. In seiner seelsorgerischen Tätigkeit ist er genau das Gegenteil – und irgendwo muss es sich entladen. Da ich gut im Training bin, was derbe Späße anlangt, muss er allerdings ebenso einiges aushalten. Auf dem Brett möchte ich indes kein Kriegsspiel, auch wenn Schach ein solches ist. Mit Freunden vereinbare ich daher: Fehler, die unter unserem Niveau sind, nehmen wir wieder zurück, denn wir wollen ja lernen. So entwickeln sich unsere Partien meist bis ins Endspiel. Das gilt vor allem für meinen Sekretär, der zunächst ein Informant von mir war. Bisher hat er mich noch nicht besiegt, aber stand schon kurz davor. Wir unterbrechen manchmal die Arbeit tagsüber, wenn’s zu stressig wird, und spielen ein Partiechen. Noch besser abschalten kann ich beim Tischtennis.

Frage: Die Kombination gibt es häufig! Bei meinem TTC Muggensturm spielt ein halbes Dutzend Schach wie Tischtennis im Verein.

Wallraff: Interessant! Ich besuche ja häufig nur Schulen, wenn sie versprechen, eine Platte aufzubauen und danach die besten Spieler gegen mich antreten. Zuletzt schaffte ich es, dass Europameister Timo Boll mit mir in den Knast kam, obwohl er Rückenprobleme hatte. Mein bester Satz gegen ihn endete 6:11 – allerdings waren da zwei Kantenbälle und ein Netzroller dabei. Ich behaupte mal ganz unbescheiden: Im Tischtennis bin ich nicht ganz schlecht. Da setze ich im Übrigen manchmal Geld, um meine Gegner zu besseren Leistungen anzuspornen. Ich sage dann immer ironisch: Im Profisport geht’s doch nur um Geld. Ich biete dann denen einen Euro an für jeden Punkt, den sie über drei holen. Und hilft es nicht, können es zehn Euro pro Punkt sein. Es schafft aber kaum jemand, mir Geld abzuknöpfen – obwohl die über sich hinauswachsen und ich plötzlich interessante Gegner habe. Die geben alles, denn Geld wollen sie alle haben. In dem Zusammenhang fällt mir die schlimmste Manipulation ein, die ich mal im Fernsehen erlebte. Das war das Allerwiderlichste! In der Sendung „west art“ kam ein jüngerer Moderator, der wohl mal im Verein gespielt hatte, und wollte mich von der Platte putzen. Das Interview, sagte er, machen wir an der Platte. „Gerne, bitte“, entgegnete ich. Der Typ hatte gar keine Chance. Weil er mich etwas von oben herab behandelte, köderte ich den auch mit Geld. Zehn Euro für jeden Punkt über vier. Meist kam er nur auf einen oder zwei im Satz bis elf. Plötzlich machte der – es stand 7:0 – einen Punkt. Ich sprach in Richtung Kamera: „Gratuliere, 7:1!“ Und nur dieser eine Satz blieb übrig vom Tischtennisspiel! Jeder dachte, er hätte 7:1 gegen mich geführt!

Frage: In welchem Alter und von wem haben Sie das Schachspiel erlernt?

Wallraff: Mein Vater brachte es mir bei, als ich sieben, acht Jahre alt war. Und ich hatte das Glück, dass Schulfreunde mit mir spielten. Ich bin kein Vereinsspieler. Manche Eröffnung wusste ich, vergaß sie aber auch wieder. Ich spiele unorthodox. Das stürzt manchmal bessere Spieler in Verlegenheit, weil sie dahinter bei mir eine ganz hinterfotzige Absicht vermuten (lacht). Das ist dann manchmal eine Chance für mich.

Frage: Wie oft spielen Sie heute?

Wallraff: Sehr unregelmäßig, manchmal zwei- bis dreimal in der Woche, dann auch wochenlang wieder nicht. Ich spiele lieber gegen bessere. Darunter ein Oberst der Bundeswehr – politisch liege ich mit dem nicht auf einer Linie, aber ansonsten ist er ein lieber Mensch, mit dem ich vergnügliches Schach spielte. Ich war ihm unterlegen und gewann vielleicht drei oder vier von zehn Partien. Der witterte jedenfalls immer fiese Tricks von mir. Der Oberst hatte im Übrigen immerhin auch unterschrieben, als ich einen Lufthansa-Boykott veranstaltete. Die wollten damals Salman Rushdie, der bei mir wohnte, nicht mehr befördern. Während ein progressiver Künstler wegen seiner Frau seine Unterschrift wieder zurückzog und ich danach nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte, hatte der Oberst zwar auch Zweifel, weil er alles genehmigen lassen musste von der Bundeswehr. Als ich ihn zu Zivilcourage aufforderte, sagte er aber: „Okay, setz’ mich da drauf, aber erzähle es bitte meiner Frau nicht, die ist immer so ängstlich.“ Ein anderer Freund war auch überlegen. Doch das drehte sich, weil er zu viel kiffte. Bei ihm entlud sich einmal alles bei einer Schach-Partie, als er noch viel besser war als ich. Ich hatte ihn zuvor auf eine Bergtour mitgenommen, die ihn überforderte. Das blieb haften. Als wir später wieder spielten und er von der Toilette zurückkam, hatte ich plötzlich einen Durchbruch auf dem Brett. Das konnte er nicht fassen und behauptete, ich hätte die Figuren verrückt. Ich entgegnete ihm: „Bist du denn verrückt? Warum sollte ich das tun?“ Aus einem Jähzorn-Anfall schmiss er das ganze Spiel vom Tisch! Den Kriegszustand beendete ich, in dem ich zu Bett ging – es war nachts um 1 oder 2 Uhr. Vielleicht eine Stunde später kam ich wieder runter: Da war der noch immer da, und es roch leicht angebrannt. Er war ein Besessener. Mein bester Freund damals hatte angefangen, herumliegendes Papier in der Küche anzuzünden. Ich betonte nochmals, dass alles mit rechten Dingen zugegangen war. Er schaffte es dann, die Partie vom ersten bis zum letzten Zug zu rekonstruieren. Diese Gedächtnisleistung gelingt mir nicht – und plötzlich sah er an dem Punkt ein, dass ich den verdienten Durchbruch hatte. Er war geplättet, schaffte es aber nicht, sich zu entschuldigen. Unsere Freundschaft war seitdem etwas getrübt, leider ist er inzwischen viel zu früh gestorben und fehlt mir sehr.

Frage: Spielen Sie nur gegen Menschen oder auch gegen Schachcomputer?

Wallraff: Mit Menschen gegenüber macht es mir mehr Spaß. Ich habe mir 1989 ein Mephisto-Gerät geleistet. Ich mag es antiquiert, ein Stück Holz in der Hand zu haben, und nicht die Figuren auf dem Bildschirm zu sehen. Mit dem Mephisto spiele ich regelmäßig – und dann eines Nachts, ich spiele sehr viel nachts, gelang mir der Durchbruch auf der schwierigsten Stufe und ich besiegte das Gerät. Danach wähnte ich mich in einer neuen Dimension, jetzt hast du es endlich geschafft und bist auf Bezirksmeister-Niveau. Von wegen! Es war wohl der reine Zufall … Seitdem gewann ich nie mehr auf der höchsten Stufe.

Frage: Besitzen Sie mehrere Schachspiele?

Wallraff: Ich habe welche gesammelt. Ich besitze indianische oder eines aus Mosambik. Dann habe ich noch ein kleines englisches Schiffsschach aus dem 19. Jahrhundert in einem edlen Holzkästchen, die Figuren sind aus Elfenbein geschnitzt. Das nehme ich gerne für unterwegs mit. Und gerade bei diesem alten Elfenbein-Schachspiel ging ein Pferd verloren, was ein großes Problem war. Nun besorgen sie mal aus Elfenbein so ein Mini-Pferd ...

Frage: Das lassen Sie mal besser Ihre Kritiker nicht erfahren, dass Sie Elfenbein Ihr Eigen nennen!

Wallraff: Das finde ich auch richtig so, dass man da nicht mehr rankommt! Ich war jedenfalls mit Nomaden in der Sahara unterwegs. Und da hatte plötzlich einer in Marokko einen riesigen Elfenbeinzahn. Das fand ich grausam und meinte, er dürfe nicht verkauft werden – ich brachte ihn aber dazu, mir ein Stückchen abzuschneiden. Damit bin ich nach Erbach ins Elfenbeinmuseum. Dort gab es einen alten Schnitzer, der mir das Pferd nachmachte. Seitdem ist das Spiel wieder vollständig.

Frage: Sie nannten Viktor Kortschnoi, der wie Sie Olympiade-Botschafter in Dresden ist, als Lieblingsspieler. Rührt die Sympathie daher, dass der in den 70ern aus der Sowjetunion geflüchtete 77-Jährige stets auch gegen Repressalien und Unterdrückung kämpfen musste?

Wallraff: Zum einen das, weil er sich quergelegt hat, trotz des großen Risikos, und sich auch treu geblieben ist. Zum anderen aber auch, weil sich Kortschnoi trotz seiner 77 Jahre noch in Form hält. Und auch, weil er sich nicht von seiner Passion abwendet, obwohl er nachlässt. Sein Kampfgeist und das Nicht-Aufgeben imponieren mir.

Frage: Ihre aktuelle Recherche werden Sie jetzt sicher nicht aufdecken – aber zumindest eines verraten Sie uns doch bitte: Steht der nichts ahnende Gegner kurz vor dem Matt?

Wallraff (lacht): Ich muss manchmal aufpassen, dass ich mich nicht selbst austrickse. Ich wurde erst unlängst in meiner neuen Rolle erkannt – doch ich hatte wie schon früher Glück. Zum Beispiel in einer Brot-Zuliefererfirma für Lidl. Der Mann sagte es mir jedoch nicht, um mich nicht zu verunsichern, weil er es gut fand, dass ich dort recherchierte. Erst später erfuhr ich davon. In der laufenden Rolle, die Mitte 2009 in einem Kinofilm dokumentiert wird, wurde ich ebenso einmal erkannt und bekam einen Riesenschreck. Steht es einmal in der Bild-Zeitung, wäre die Rolle am Ende gewesen. Zum Glück hatte er auch meine Bücher gelesen und versprach mir Verschwiegenheit. Um es im Schach-Jargon zu sagen: Ich hatte Glück in der Stellung.

 

Schach Magazin 64 – 3 / 2009