Namenlos1

Aus:

Ted Conover, VORHOF DER HÖLLE Undercover in Sing Sing

September 2001, Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek

ISBN 3 498 00922 2

VORWORT von GÜNTER WALLRAFF

Ted Conover hat, um dieses Buch schreiben zu können, eine Arbeitsmethode und List angewandt, die in den USA eine lange Tradition hat Bereits 1887 gelang es der Reporterin Nelly Bly, sich in eine psychlatrische Klinik als Patientin und in ein Gefängnis als Insassin einzuschleusen, um mit Wissen und Unterstützung von Joseph Pulitzer, dem Besitzer der New York World, Verbesserungen vor Ort zu erreichen. Legendär die Verwandlungen von John Howard Griffin 1959 und Grace Halsell 1969, denen es als Weiße durch Pigmentveränderung gelang, in die Haut von Schwarzen zu schlüpfen, um die Rassendiskriminierung am eigenen Leib zu erfahren und in ihren Büchern «Black like me» («Reise durch das Dunkel») und «Soul Sister» («Ich war eine Schwarze») anzuprangern.

Ted Conovers außergewöhnliches Engagement scheint schon früh angelegt: Er ist einer der ersten weißen Schüler seiner Heimatstadt Denver, der im Rahmen der «Desegregation», eines integrativen Unterrichtsmodells, eine Schule im schwarzen Ghetto besucht. (50 Prozent der Schüler sind Schwarze, 40 Prozent Weiße und 10 Prozent spanischer Abstammung.) «Vermutlich hat sich gerade hier meine Aufmerksamkeit für gesellschaftliche Ungerechtigkeit und kulturelle Unterschiede herausgebildet.» Inspiriert von Jack Londons «Abenteurer des Schienenstranges» lebt er mit obdachlosen Tramps zusammen, den so genannten «Hoboes»; so entsteht sein erstes Buch «Rolling Nowhere», das Resümee von «12000 Meilen, in 65 Güterwaggons durchrattert, durch 15 Staatender USA». Für sein zweites Buch «Coyotes» lebte er an der Grenze zwischen USA und Mexiko mit Flüchtlingen und Fluchthelfern und erlebt «ungeahntes Elend und zuvor nicht gesehene Grausamkeit». In «White out lost in Aspen» gelingt es ihm, in die GlanzundGlamourScheinwelt der High Society einzudringen, eine «Reflexion über die süße Verführungskraft von Reichtum und das großspurige Verlangen nach dem Paradies, die sich an diesem sinnentleerten Platz namens Aspen, Colorado, verbinden».

Im vorliegenden Buch berichtet Conover über sein bisher zeitaufwendigstes und radikalstes Sozialexperiment im Selbstversuch. Seine Erzählung ist von einer schonungslosen Offenheit und einer Ehrlichkeit gegen sich selbst, die bis an die Grenze geht.

Keine soziologischwissenschaftliche Untersuchung könnte diesen Erkenntniswert verschaffen, und an Spannung kann es sein Insiderbericht mit manchem Krimi aufnehmen.

Egon Erwin Kisch, schrieb Kurt Tucholsky 1930 als Peter Panter, «hat eine Eigentümlichkeit, die ich immer sehr bejaht habe: Er sieht sich in fremden Ländern allemal die Gefängnisse an. Denn maßgebend für eine Kultur ist nicht ihre Spitzenleistung; maßgebend ist die unterste, die letzte Stufe, jene, die dort gerade noch möglich ist. » Als Ted Conover Näheres darüber wissen will, versucht er zuerst auf dem offiziellen Weg, eine Genehmigung für seine Gefängnisrecherchen zu erhalten. Als ihm dies verweigert wird, lässt er sich was einfallen. Er bewirbt sich als «Vollzugsbeamter», und nach einer siebenwöchigen Ausbildung an der so genannten Akademie wird er mit Schlagstock, LatexHandschuhen und Schlüsselringen ausgestattet in eins der berüchtigtsten Gefängnisse der Welt als Schließer entsandt mit den Worten: «Die in den grauen Uniformen sind die Guten, die in den grünen Uniformen die Bösen.»

In Sing Sing erlebt Conover die krasse Aufspaltung der Gesellschaft in Angesehene und Geachtete und endgültig Ausgestoßene und Geächtete tagtäglich in albtraumartiger Übersteigerung. Er empfindet seine Tätigkeit wie ein Lagerist in einem «riesigen Lagerhaus für Menschen» oder wie es sein Vorgesetzter definiert: «Sie sind jetzt Zoowärter. Also legen Sie los und schmeißen Sie den Zoo.» Zeit für Gespräche, Zuwendung oder gar psychologische Betreuung lässt das durchamerikanisierte Gefängnissystem nicht zu. Auch hier gilt: Zeit ist Geld. Einsparen, ruhig stellen, wegschließen. Verrohung und Aggression sind die Regel bei sich belauernden Wärtern und Gefangenen und beruhen auf Gegenseitigkeit. Conover beschreibt den amerikanischen Gefängnisalltag unbestechlich ehrlich und unpathetisch realitätsgenau, so, wie er bisher noch nie dargestellt wurde. Man erfährt mehr über die Deformationen der amerikanischen Gesellschaft und ihre Ursachen als in den meisten zeitgenössischen Romanen der USBestsellerautoren. Man fragt sich, wie lange es noch dauert, bis dieses Gesellschaftssystem kollabiert, in dem für junge männliche Schwarze die Wahrscheinlichkeit, im Gefängnis zu landen, fünfmal so hoch ist wie die, eine staatliche Universität zu besuchen. jeder dritte männliche Schwarze zwischen 20 und 29 sitzt entweder hinter Gittern oder ist gerade auf Bewährung.

Conover spricht von der «Masseninhaftierungskrise». Obwohl die Verbrechensraten sinken, werden wesentlich mehr Menschen inhaftiert als je zuvor. «Als Folge müssen gewaltige Finanzmittel umgewidmet werden, extrem gespart wird am Gesundheits und Bildungswesen. In den USA werden sechsmal so viel Menschen eingesperrt wie in England, jeder 140. USBürger sitzt zurzeit hinter Gittern. » Die Zahl der Inhaftierten hat sich in den letzten 25 Jahren verdreifacht, und die Inhaftierungsrate steigt weiter an, sodass seit einiger Zeit selbst mit Haftanstalten unter privatisierter Leitung experimentiert wird. 22000 Menschen sterben jährlich durch Handfeuerwaffen.

Die USA gehören neben Iran und Irak (so genannte «Schurkenstaaten»), Nigeria, Pakistan und Bangladesh zu den Staaten, in denen auch Minderjährige zum Tode verurteilt werden. Im Jahr 2000 wurden in den USA laut amnesty international 85 Todesurteile vollstreckt, womit sich die Zahl der Exekutionen nach Auslaufen eines Moratoriums seit 1977 auf 683 erhöhte in einem Land, das sich zivilisiert nennt und den Anspruch der Weltpolizei erhebt. Neunzig Prozent derjenigen, die in den USA wegen eines Kapitalverbrechens angeklagt werden, sind mittellos; weniger als zwei Prozent sind in der Lage, einen qualifizierten Anwalt zu bezahlen. Kapitalverbrechen und das Strafmaß haben in den meisten Fällen etwas mit Armut zu tun, und die wiederum hängt ganz offensichtlich mit der Hautfarbe zusammen. In den Todeszellen der Vereinigten Staaten sitzen zu 40 Prozent Afroamerikaner ein, deren Anteil an der Gesamtbevölkerung jedoch nur 12 Prozent beträgt. Wenn Schwarze wegen Mordes angeklagt sind, kommt es in 82 Prozent der Fälle zum Todesurteil, bringen hingegen Weiße Schwarze um, kommen sie in der Regel mit Haftstrafen davon. Neuere Überprüfungen gehen davon aus, dass mindestens einer von vierzig Hingerichteten unschuldig war.


Abgesehen von dramatischen Kinoepen, die immer wieder einmal von brutalen Verhältnissen hinter Gittern handeln, dabei aber auch zahlreiche Klischees reproduzieren, ist die Welt der Weggesperrten für die übrige Gesellschaft nahezu unzugänglich. Conover beschreibt sie aus der Perspektive der Menschen, die schlecht ausgebildet und überfordert «eine lebenslängliche Strafe in Achtstundenschichten» erleiden und im Kreislauf einer allherrschenden Gewalt nicht selten Gefangene demütigen oder verprügeln. Sie müssen an vorderster Front umsetzen und ausbaden, was die Rechtspolitik an Normen und Fehlern produziert. Conover legt in seinem Bericht selbstkritisch offen, wie ihn dieses Jahr im Gefängnis zu verändern droht, wie sein Familienleben dabei zerstört wird und wie er selber vom friedfertigen Zeitgenossen zum Gewaltbereiten wird. «je länger ich den Job machte, umso mehr verlangte es mich nach der Anwendung von Gewalt.»

Die besondere Glaubwürdigkeit und Brisanz seines Buches rührt auch daher, dass Conover über das in der Wissenschaft praktizierte und dort legitime Prinzip der teilnehmenden Beobachtung weit hinausgeht und zum agierenden, zutiefst betroffenen und mitleidenden Teilnehmer wird. Er maßt sich nicht an, über den Dingen zu stehen, erhebt sich nicht über seine Kollegen und ist bemüht, seine Arbeit möglichst gewissenhaft zu machen. Zwar begegnet er in Sing Sing den unterschiedlichsten Typen von Menschen und einer allgegenwärtigen Atmosphäre der Gewalt, die durch rigide Regeln nur mühsam gebändigt wird und sich dennoch immer wieder Bahn bricht. Aber selbst wenn er ausgesprochen brutale Typen schildert, verurteilt er sie nicht von vorneherein, sondern versucht herauszufinden, warum sie so sind und wie sie dazu geworden sind. Und so wird besonders eindringlich deutlich, wo die eigentliche Verantwortung liegt: bei jenen in Politik, Verwaltung und Gesellschaft, die diese Verhältnisse auch da nicht verändern, wo es möglich und erforderlich wäre, und das Gefängnis damit zu einem Raum machen, in dem negative gesellschaftliche Tendenzen noch verstärkt werden: die Aufspaltung in Gut und Böse, Oben und Unten, solche mit Chancen und solche, die von vorneherein keine haben, Rassenschranken und Rassenhass und die Verweigerung von Hilfe und Bildung gerade denjenigen gegenüber, die sie besonders nötig hätten. Statt Resozialisierungsbemühungen Strafanstalten als Lehrwerkstätten neuer Kriminalität! Die Praxis, die gesellschaftlichen Probleme einfach wegzusperren, mit den Menschen, die sie tatsächlich oder angeblich verursachen, so lehrt dieses Buch, löst kein einziges Problem, es schafft nur neue. Daran kann man sich erinnern, wenn die nächste modische Welle einer «Nulltoleranz » im Umgang mit gesellschaftlichen Problemen über den Atlantik zu uns rüberschwappt.

Das Sympathische an Ted Conovers GrenzgängerLiteratur ist, dass er sich selbst soweit es geht zurücknimmt, sich jedenfalls nie in den Vordergrund schiebt und die anderen handelnden Personen damit nicht zu Statisten degradiert. Er selbst definierte seine Art zu schreiben einmal so: «Erzählende Sachliteratur in der ersten Person ist eine verzwickte Angelegenheit. Man hat die Erzählstimme, gibt jedoch auch stets einen gehörigen Teil von sich selbst preis und muss dazu die nötigen Sachinformationen liefern.Von Anfang an war es mir wichtig, andere Menschen in den Vordergrund zu stellen und mich selbst als einen Handlungsträger einzufügen.»

Eine Schlüsselszene, die das ganze Dilemma des amerikanischen Strafvollzugs drastisch vor Augen führt, findet sich im letzten Teil des Buches. Ein Gefangener namens Larson bringt es auf den Punkt, indem er darauf hinweist, dass in den USA schon jetzt die Gefängnisse mit Zuwachsrate geplant werden, in denen dann die Kinder von heute weggesperrt werden sollen: «Machen Sie sich das mal klar. jeder, der jetzt ein Gefängnis plant, das erst in zehn oder fünfzehn Jahren gebaut werden soll, plant es für ein Kind. Er plant Gefängnis für jemanden, der jetzt ein Kind ist. Verstehen Sie, die haben dieses Kind schon aufgegeben. Die erwarten schon, dass dieses Kind versagt. Also, wenn man dieses Kind in eine gute Schule schicken und der Familie helfen könnte zusammenzubleiben, warum wird dieses Geld dafür verwendet, das Kind ins Gefängnis zu stecken?! » Und der Autor bekennt: «Ich fühlte mich in dem Augenblick läppisch in meiner Uniform, wie der Büttel, der den miesen Plan eines anderen ausführt.»

Egon Erwin Kisch übrigens stattete Ende der zwanziger Jahre auch Sing Sing seinen Besuch ab. Allerdings mit offizieller Erlaubnis und nur einen Tag lang. Dafür war er mit falschen Papieren in die USA eingereist, um für sein Buch «Paradies Amerika» authentische Erlebnisse zu sammeln. In seiner Reportage «Vierzehn Dinge in Sing Sing» schreibt er «Der Felsen ist kein natürlicher Felsen. Vor hundert Jahren wurde er aus grauem Stein aufgerichtet, solcherart, dass die Höhlungen frei blieben. Diese Arbeit leisteten Sträflinge, vielleicht Diebe, vielleicht Räuber, vielleicht Betrüger und vielleicht Meuchelmörder, an jener Stelle des Hudsonufers, wo einst die SinckSinckIndianer bestohlen, beraubt, betrogen, und gemeuchelt worden waren von Menschen, die sich und ihren Nachkommen dadurch Reichtum, Macht, Ehre und Standesbewusstsein und vor allem das Recht errungen hatten, Verbrecher unnachsichtig zu strafen.

Kisch berichtet auch von einer Gefangenenorganisation in Sing Sing, der «mutual welfare league»: «jeder eingelieferte Sträfling ist als solcher Mitglied der Liga und darf an den Wahlen seiner Arbeitsgruppe teilnehmen. Je 45 Mann werden von einem Delegierten vertreten. » Gut siebzig Jahre später ist von diesem demokratischen Ansatz nichts mehr übrig geblieben.